Unsere Aufgabe ist es, den ganzen Menschen wahrzunehmen

Genau 70 Lebensjahre liegen zwischen der 31-jährigen Gloria Schneider aus Lichtenberg und dem 101-jährigen Alfred Silber aus Linz. Ihre Wege kreuzten sich vor knapp einem Jahr im Caritas-Seniorenwohnhaus Karl Borromäus in Linz, wo die Sozialbetreuerin ihrem Beruf seit 12 Jahren mit großer Leidenschaft nachgeht: „Die Arbeit ist auch persönlich eine Bereicherung. Es ist beeindruckend und spannend, wenn alte Menschen, so wie Herr Silber, aus ihrem Leben erzählen. Herr Silber ließ es sich dabei nicht nehmen, seine Biographie selbst auf dem Laptop niederzuschreiben – und das mit 101 Jahren!“

Schon als Volksschulkind begleitete Gloria Schneider ihre Tante oft, die in einem Altersheim arbeitete. Sie las den Bewohner*innen gerne vor oder sang mit ihnen: „Die Arbeit mit alten Menschen hat mich schon immer angesprochen, man kann so viel von ihnen lernen, zum Beispiel, dass man sich bewusst Zeit für ein paar Minuten Ruhe nimmt. Gerade in der heutigen Zeit, die so hektisch und getrieben ist. Mittlerweile bin ich seit 12 Jahren hier im Caritas-Seniorenwohnhaus – und ich liebe den Job immer noch. Die Arbeit ist einfach bereichernd und sie macht Spaß.“

Freud und Trauer liegen oft dicht beieinander

Gloria Schneider ist Mutter von zwei Kindern im Alter von zwei und fünf Jahren. „Das große Entgegenkommen meiner Vorgesetzten macht mir die Vereinbarkeit von Familie und Beruf einfach. Derzeit arbeite ich 18 Wochenstunden, das passt wirklich gut.“ Die Lichtenbergerin und ihre Kolleg*innen unterstützen die Bewohner*innen bei den Dingen, die alleine nicht mehr gehen. Während dieser Tätigkeiten unterhalten sie sich oft. „Die Biographie unserer Bewohner*innen interessiert mich immer. Es beeindruckt mich jedes Mal auf’s Neue, wenn ich Details aus dem Leben unserer Bewohner*innen erfahre.“ Im September 2021 musste Alfred Silbers Frau ins Caritas-Seniorenwohnhaus einziehen. Er selbst folgte dann im Februar 2022, „weil ich in meiner Wohnung nicht mehr zurechtkam“, verrät der 101 Jährige.
Leider verstarb seine Frau kurz nach seinem Einzug. „Freud und Trauer liegen oft dicht beieinander. Unsere Aufgabe als Sozialbetreuer*innen bedeutet nicht nur, für das körperliche Wohlergehen unserer Bewohner*innen zu sorgen, sondern immer den ganzen Menschen mit Körper, Geist und Seele wahrzunehmen. Die Trauer um seine geliebte Frau konnten und können wir nicht abnehmen. Aber wir können mitfühlen, zuhören, da sein.“ Und es gibt sie auch, die schönen Momente im Alltag. „Die größte Freude für mich ist, dass mich meine Kinder täglich besuchen und meinen Alltag auflockern“, sagt der 101 Jährige.

Ein bewegtes und erfülltes Leben

Alfred Silber blickt auf ein sehr bewegtes, aber auch erfülltes Leben zurück. Geboren wurde er am 31. August 1921 in Wels als einziges Kind seiner Eltern Franz und Grete Silber. Sein Vater zog als Monteur der Firma Waagner-Biro von Baustelle zu Baustelle. „Wir hatten keine eigene Wohnung, sondern lebten in Gasthäusern oder Bauhütten“, erinnert sich Alfred Silber. „Ich hatte kaum Kontakt zu anderen Kindern, aber ich verbrachte gerne meine Zeit auf der Baustelle mit den Arbeitern, die mich liebevoll behandelten. Doch es kam die Schulzeit, ein Jahr Aufschub wurde noch genehmigt, aber dann musste es sein. Ich sollte nach Gallneukirchen in die Schule und ins Internat. Eine Schar von Kindern in einem Schlafsaal, ein riesiger Speisesaal. Für mich eine Katastrophe! Ich trat in den Hungerstreik.“ Die Großmutter in Leonding nahm ihren Enkel liebevoll auf. Doch die Bauernbuben trugen Lederhosen und Holzschuhe. „Ich hingegen war städtisch gekleidet und trug Lederschuhe, im Winter genagelte. Also wurde ich gemobbt, wie man heute so sagt!“

Seine Eltern bekamen schließlich in Wien-Floridsdorf eine kleine Wohnung: Zimmer, Küche, Wasser und Plumpsklo am Gang. Hier gab es keine Probleme mit den Mitschülern, im Gegenteil, es entwickelten sich dicke Freundschaften, die noch lange anhielten. Mit der Kriegsmatura an der Staatsgewerbeschule, Fachrichtung Maschinenbau, im Februar 1941 erhielt er gleichzeitig den Ingenieurtitel. Gleich danach erhielt er die Einberufung zu den Panzerjägern. Am 29. Juli betrat er bei Tripolis erstmals afrikanischen Boden. Nach einer schweren Verwundung durch eine Granate wurde er Kraftfahrer in Afrika.

Gefangenschafft

Dank eines Freundes wurde er wieder in Afrika eingesetzt und musste nicht nach Stalingrad. „Ich fuhr Offiziere zu Besprechungen, transportierte Lebensmittel und Verpflegung, fuhr den Armeepfarrer zu Feldmessen und fungierte dabei auch als Mesner.“  Am 12. Mai 1943 kapitulierte das Deutsche Afrikakorps. Am 14. Mai 1943 geriet er auf der Halbinsel Cap Bon bei Tunis in englische Gefangenschaft. Es begann eine 6-wöchige Hungerszeit – sowohl für die Gefangenen, als auch für die Bewacher. „Dann wurden wir den Amerikanern übergeben. Von Casablanca wurden wir mit einem Frachtschiff nach Norfolk gebracht. Nachdem wir entlaust und gegen alles Mögliche geimpft waren, wurden wir neu eingekleidet. Dann ging es mit dem Zug in Pullman Waggons, besser als bei uns damals die erste Klasse, nach New Mexico zur Baumwollernte. Doch da man aus Baumwolle mit Salpetersäure auch Schießbaumwolle herstellen kann, streikten wir. Nach 8 Tagen Arrest wurden wir Rädelsführer nach Main in ein Holzfällercamp in Seboomook am Moosehead Lake verlegt, wo wir am 1. Juli 1944 eintrafen. Ich war Holzfäller, Schulungsleiter, Camp- Elektriker, Filmvorführer. Da ich nach meiner Kriegsgefangenschaft Chemie studieren wollte, nutzte ich jede Gelegenheit mir entsprechende Fachbücher zu besorgen. Mitte Mai 1946 wurde ich auf ein Frachtschiff der Viktoria Klasse eingeschifft und in Le Havre in einen Frachtwagon verladen. Am 31. Mai 1946 kam ich in Hallein an und wurde am 1. Juni 1946 in die Freiheit entlassen.“

Inzwischen war sein Vater Direktor im Stahlbau der ehemaligen Hermann Göring Werke in Linz geworden. Da Alfred Silber als Absolvent der Staatsgewerbeschule Maschinenbau keinen Platz für ein Chemie Studium bekam, inskribierte er im Herbst 1946 Technische Physik an der TU Wien. Das Studium beendete er 1951.

Die Liebe des Lebens

Lächelnd erzählt er, wie er schließlich seine große Liebe kennenlernte. „Bei der am 23. Dezember 1948 stattfindenden Weihnachtsfeier des Stahlbaus musste ich meinen Vater begleiten, da meine Mutter mit Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt war. Die Tochter Eleonore des Elektromeisters musste ebenfalls ihren Vater zur Weihnachtsfeier begleiten. Nach den üblichen Ansprachen folgte der gemütliche Teil der Feier. Ich forderte Eleonore zum Tanzen auf und ließ sie nicht mehr los. Ich war mir nicht sicher, wer wen beim Tanzen führte. Und dieses Gefühl blieb unser ganzes restliches Leben auch abseits der Tanzfläche.“ Am 9. Oktober 1952 heiratete das Paar in Linz, 1953 kam Sohn Alfred und im März 1957 Tochter Ursula zur Welt. Rauris wurde zum beliebten Urlaubsdomizil, wo sie 1976 ihr eigenes Ferienhaus bezogen.

Forschung: Vom Ein-Mann-Betrieb zu 120 Mitarbeiter*innen

Ein wichtiger Teil seines Lebens war sein erfolgreiches Berufsleben. Nach dem Studium begann er in der Forschungsabteilung der VOEST mit dem Aufbau einer Abteilung für zerstörungsfreie Werkstoffprüfung. Begonnen wurde mit einem Ultraschallgerät und zwei Radioisotopen. Dafür erhielt er von England ein Stipendium zur Ausbildung zum Isotopentechniker. „Begonnen hatte ich als Ein-Mannbetrieb, bei meiner Pensionierung 30 Jahre später hatte ich 120 Mitarbeiter“, blickt er stolz auf das Erreichte zurück. Für die erfolgreiche Forschungstätigkeit wurde ihm als besondere Auszeichnung das Goldene Ingenieurdiplom verliehen.

Auch in der Pension war sein Tatendrang groß. Er begann mit dem Sammeln und Bestimmen von Pilzen, Flechten, Moosen und Farnen und wurde Mitglied bei der Mykologischen Gesellschaft. „Die essbaren Pilze bereitete meine Frau hervorragend zu“, erinnert er sich an die gemeinsame Zeit.

Das Geheimnis eines langen Lebens

„Ich schätze die Art von Herrn Silber, er ist nie stehen geblieben, sondern bildet sich immer wieder weiter“, erzählt Gloria Schneider. „Er hat es sich z.B. auch nicht nehmen lassen, seine Biographie auf seinem Laptop selbst zu verfassen – und das mit 101 Jahren! Von seiner Lebensgeschichte beeindruckt mich am meisten, dass er aus jeder Situation immer das Beste gemacht hat, trotz vieler Schwierigkeiten, gerade im Krieg. Sein Rat an die Jugend ist, den Beruf zu ergreifen, für den man brennt – und die Herausforderungen des Lebens anzunehmen und sie so gut wie möglich zu meistern. Diesen Rat kann ich total unterstreichen.“

Zum Schluss verrät Alfred Silber noch sein Geheimnis für sein langes Leben: „Nicht rauchen, das gesunde und schmackhafte Essen von meiner Frau, Wandern und im Garten arbeiten sowie die Unaufgeregtheit meines Hausarztes.“